wider das größere Übel?

In Zeiten, in denen der Faschismus an der Wahlurne zu triumphieren droht, ist wenig von linken Wahlboykottkampagnen zu hören. Zurecht?!

Eine Linke, die sich vor den parlamentarischen Erfolgen der Rechte in die Linkspartei, und damit in parlamentarische Illusionen flüchtet, oder gar dem Populismus frönt („wenn du uns deine Stimme gibst, dann wird alles anders!“) hat bereits verloren. Diesen Illusionen folgt im besten Fall aufklärerische Enttäuschung, in den meisten Fällen aber wohl eher dumpfe Resignation. Oder, wenn „die Linke“ (Partei) an den Wahlurnen und programmatisch als endgültig gescheitert gilt, stehen möglicherweise auch neue Parteigründungen an. Aber auch auf einen solchen Aufbruch würde notwendig der Katzenjammer folgen; oder die Klage über Verrat an den Idealen.
Die Forderung nach den charakterstarken, moralisch korrekten Führern, wie sie aktuell etwa von Ferat Koçak in Neukölln betrieben wird („sie erhöhen ihre Diäten, ich beschränke mein Gehalt“) ist strukturell eine rechte. Der linke Parlamentarismus scheitert nicht an der (in entsprechenden Positionen und Strukturen durchaus naheliegenden) Korruption seines Personals, sondern an den Strukturen der parlamentarischen Demokratie.

Die von der Ökonomie getrennte Sphäre der Politik, welche in ihrem „Handlungsspielraum“ von ersterer abhängig ist, deshalb deren Rahmenbedingungen möglichst „wachstumsfördernd“ gestalten muss, birgt in sich keine Möglichkeiten zu dem was mit Marx als „menschlichen Emanzipation“ (im unterschied zur politischen) bezeichnet werden könnte, keine „Befreiung der Gesellschaft vom Staat“. Das parlamentarische Stellvertretertum verhindert strukturell die Selbstorganisation und Selbstverwaltung der „Repräsentierten“. Das höchste was die parlamentarische Linke in ihrer Geschichte zu bieten hatte, war deshalb biedere Sozialdemokratie – also einen immer wieder durch Krisen und Kriege bedrohten Sozialstaat. Angesichts der Klimakrise, die unter dem kapitalistischen Wachstumsimperativ, „bestenfalls“ durch materielle Zumutungen für die Proletarisierten, durch weitere neokolonialen Ausbeutung und Verschärfung anderer ökologischer Krisen etwas abgemildert werden könnte, verliert die parlamentarische Linke alle in die Zukunft weisenden Versprechen, außer einem: das kleinere Übel zu sein.

Dieses gewinnt aktuell aber an Gewicht. Das Bonmot, von den Wahlen, die verboten wären, wenn sie etwas ändern würden, gilt für die Rechte nämlich nicht. Deren Versprechen sind, zumindest wenn sie richtig dechiffriert werden, durchaus realtitätstauglich. (Zumindest für einige Zeit – deren Grenze hier aber nicht ausgemalt werden soll) Dechiffriert heißt: nicht alle Parolen wörtlich nehmen, sondern den Sinn dahinter entschlüsseln: wer die Macht des freien Marktes propagiert, mag sich Sicherheit auf seine Fahnen schreiben, so groß er will. Aber „Sicherheit“ im Sinne der Möglichkeit „Leben ohne Angst zu haben“ (Hans Eisler) wird es nicht geben, soll es auch nicht geben. Das Hamsterrad soll sich vielmehr noch schneller drehen, auch wenn das bedeutet, dass noch mehr raus fliegen.
Das dahinter liegende Versprechen aber, wird deutlich am aktuell zentralen Objekt der sicherheitspolitischen Debatten von Rechts: den Menschen, denen es gelang, trotz aller, seit Jahrzehnten immer weiter aufgerüsteten Grenzen in die Wohlstandsinseln des globalen Kapitalismus zu gelangen; die versuchen Krieg, Verfolgung oder elenden Lebensbedingungen hinter sich zu lassen. Was die Rechte ihren Wähler*innen verspricht ist: denen soll es noch schlechter gehen als euch! Sie spricht die sadistischen Impulse im Volk an, verschafft diesen Befriedigung, verspricht noch mehr davon, und wird dafür gewählt.

Das Ziel den Geflüchteten das Leben in Deutschland möglichst mies zu gestalten, ist seit Jahrzehnten erklärtes Ziel. Die Fluchtwege möglichst schwierig zu gestalten, die Menschen möglichst woanders festhalten, ebenso. Wenn die CDU und der ihr folgende Pöbel jetzt erklären: „in der Vergangenheit wurde die Flüchtlingspolitik ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Humanität betrieben – das muss sich jetzt grundlegend ändern“ (CDU-Politiker im Deutschlandradio-Interview; aus dem Gedächtnis zitiert) dann ist das – angesichts des aktuellen und vergangenen Elends in den Unterkünften für Geflüchteten, angesichts der Toten auf dem Mittelmeer und auf anderen Fluchtrouten – eine Drohung, die wir ernst nehmen sollten!

Wie dünn die rationalisierenden Rechtfertigungen für die Angriffe auf die Rechte von Geflüchteten werden, zeigt den Grad der Faschisierung der Debatte: Familiennachzug begrenzen, als Maßnahme gegen Gewalt- und Terrorakte? Abschiebeabkommen, und diplomatische Stärkung von islamistischen Regimen (Türkei, Afghanistan) als Antwort auf islamistischen Terror? Die Gleichsetzung von, in Motiv und Täterprofil, deutlich verschiedenen Gewalttaten zur Reihe: “Solingen, Magdeburg, Aschaffenburg“? Hier schlägt der instrumentelle Vernunft der bürgerlichen Gesellschaft um, in „pathische Projektion“ (Adorno/Horkheimer). Oder in skrupellose Propaganda, die solche Projektionen instrumentalisieren will.

Rechts und Links funktionieren verschieden im parlamentarischen Betrieb: die Linke an der Macht enttäuscht notwendig emanzipatorische Hoffnungen, die auf sie gesetzt werden. Die Rechten an der Macht werden sich nicht entzaubert, wie es immer wieder heißt, sondern radikalisieren sich. Ihre Anhänger werden das bekommen, wofür sie die Schweine gewählt haben, und sie werden mehr davon verlangen. Dass sich Hass nicht nur gegen Geflüchtete richtet, sondern auch in alle möglichen anderen Richtungen, nach Gelegenheit zum nach-unten-treten sucht, führt nicht zwangsläufig zu solidarischen Bündnissen, sondern trägt auch das Potential, den „brüchig pazifizierten Bürgerkrieg“ (so eine Formulierung von Hans-Jürgen Krahl), den die bürgerliche Gesellschaft darstellt, zu Brutalisieren.

Der Parlamentarismus bietet keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Je stärker aber die Dominanz der Faschisten in den Parlamenten ist, und je leiser und zaghafter dort die Gegenstimmen gegen die Angriffe auf Geflüchtete, Transferleistungsempfänger:innen, Arbeiter:innen sind (die zuverlässig nur zu erwarten sind, von linken ohne Chance auf Regierungsbeteiligung), je ausschließlicher die Möglichkeiten und Ressourcen des Parlamentarischen Betriebs nach ganz rechts gehen, desto schneller – so zumindest unsere spekulative These – wird die Faschisierung voran schreiten. Und die zweite, daran anschließende spekulativ These: dies würde die Bedingungen für emanzipatorische Kämpfe nicht durch Polarisierung stärken, sondern durch Repression und Resignation schwächen.
Eine so genannte „taktische“ Stimme für das kleinere Übel scheint uns aktuell deshalb geboten. Trotz allem, was dies an Korruption und Verdummung, an Beförderung parlamentarischer Illusionen bedeutet.

passiert am 07.02.2025